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KAM Advisory News

Innovation und Paradigmenwechsel: Alexander von Humboldt

By 30. November 2022Dezember 15th, 20222 Comments
Humboldts Naturgemälde (Tableau physique des Andes et pays voisins)

Was bringt grosse Forscher und Erfinder wie Kopernikus, Gutenberg, oder Einstein dazu, so innovativ, ja revolutionär in ihrem Feld zu sein? Gibt es Merkmale, welche bei Innovationen oder Paradigmenwechsel immer wieder einzeln oder in Kombination auftreten? Nicht nur in der Astronomie, dem Buchdruck oder der Quantenmechanik werden Paradigmenwechsel durch einzelne herausragende Köpfe eingeleitet; auch in der Naturforschung gab es um 1800 eine überragende, innovative Persönlichkeit: Alexander von Humboldt (1769-1859) gilt als «Erfinder» der modernen Oekologie.

Humboldt wuchs in einer wohlhabenden preussischen Adelsfamilie auf. Geboren wurde er 1769, zwei Jahre nach seinem Bruder Wilhelm (der spätere preussische Bildungsreformer und Gründer der nach ihm benannten Berliner Universität). Die Brüder Humboldt genossen eine vorzügliche Ausbildung mit Hauslehrern. Früh zeigte sich, dass Alexander mehr an der Natur als an den griechischen Klassikern interessiert war. Er streifte durch die Wälder und sammelte Insekten und Pflanzen.  Später studierte er u.a. in Göttingen Naturwissenschaft, Mathematik und Sprachen. Bereits in jungen Jahren reiste er durch Europa und nach London, wo er bereits mit bekannten Forschern Kontakte knüpfte. Sein Fernweh wuchs mit jedem Schiff, das er in London oder später in Hamburg den Hafen verlassen sah. Seine Persönlichkeit wird als rastlos bezeichnet, er hetzte von einem Thema zum anderen. Er war brillant, wusste unterdessen um seine Intelligenz und beeindruckte in Gesellschaften alle Anwesenden. Auch später, längst erfolgreich und berühmt, wurde er schnell zum Mittelpunkt einer Gesprächsrunde, die er mit seinem breiten und tiefen Wissen zu unterhalten vermochte. Bereits als 25-Jähriger lernte er Schiller und Goethe kennen. Goethe war von Humboldt begeistert und würde über das ganze Leben eine wichtige Bezugsperson bleiben.

Humboldts Persönlichkeit zeichnete sich durch eine hohe Ausdauer und grosse Risikobereitschaft aus. Seine Exkursion in die Urwälder Kolumbiens und die hohen Anden Ecuadors und Perus (zwischen 1799 und 1804) sind dafür eindrückliches Zeugnis. Seine Ausdauer glich mitunter eher Hartnäckigkeit und Sturheit. Triebfeder für seine Forschungsreisen waren Neugier und Motivation. Er wollte Neues entdecken, er wollte berühmt werden! Er hatte immer ein Ziel vor Augen (z.B. die Besteigung des Chimborazo, der damals als höchster Berg der Welt galt), jedoch war der Weg zum Ziel ebenso wichtig (die Beobachtungen und Aufzeichnungen auf dem Aufstieg zum Vulkan). Seine Intelligenz, das umfangreiche Wissen in Breite und Tiefe, seine Persönlichkeit und Motivation machen Humboldt geradezu idealtypisch zum kreativen Forscher und Erfinder.

Man kann von einer "Inkubation" im Sinne des kreativen Prozesses sprechen.

Kreativität und Innovationskraft

Die Kreativität einer Person wie Humboldt ist nur ein Erfolgsfaktor, der zu innovativen Leistungen beiträgt. Gemäss Joachim Funke (Literaturhinweise am Ende des Blogs) kann man anhand der Dimensionen Person, Prozess, Produkt und Umwelt die Faktoren der Kreativität systematisch analysieren. Ein erweitertes Modell bieten Lubart und Thornhill-Miller in Form ihrer «7C’s of Creative Thought» an. Im Folgenden bedienen wir uns der einfacheren Variante Funkes.

Funke nennt vier wesentliche Merkmale einer kreativen Person: intellektuelle Fähigkeiten, Wissen, Persönlichkeit und Motivation. Wir haben oben beschrieben, dass Humboldt zweifellos herausragende intellektuelle Fähigkeiten hatte. Humboldt bewies kreative Intelligenz, indem er spannende Probleme definierte, die er lösen wollte («Vulkane verstehen», «Südamerika erkunden», «elektrische Eigenschaften von Froschmuskeln messen», «Unfallrisiken von Bergleuten vermindern», u.v.m). Bei der Lösung ging er äusserst analytisch vor. Beispielsweise schleppte er einen umfangreichen Park an Messinstrumenten auf seinen Forschungsreisen mit. Selbst unter widrigsten Bedingungen bestimmte er in den hohen Anden Luftdruck und Temperatur, und führte ein detailliertes Journal über seine Beobachtungen und Messungen.

Der kreative Prozess

Die Vorbereitung auf seine Südamerika Expedition war äusserst gründlich und sehr umsichtig. Instinktiv verstand Humboldt, dass eine grosse Expertise in den relevanten Disziplinen für einen Erfolg unerlässlich war. Eine Faustregel besagt, dass mindestens 10’000 Stunden Aufwand zur Erlangung des Experten-Niveaus erforderlich sind. So viel Zeit hatte Humboldt wohl in verschiedene Disziplinen wie Messtechnik, Botanik, Geologie, etc. investiert. Das Ziel der Expedition schien eher zufällig festgelegt worden zu sein; das eigentliche Ziel bestand aber in der Forschung und Naturbeobachtung an sich. Umso glücklicher für Humboldt, dass er mit Südamerika im Vergleich mit anderen Weltregionen ein wissenschaftlich noch wenig erschlossenes Gebiet bereisen konnte. Dies ermöglichte ihm einerseits spektakuläre neue Erkenntnisse, und andrerseits eine Einzigartigkeit und Exotik seiner Abenteuer, die für die spätere «Vermarktung» seiner Ideen entscheidend sein würden.

Die Bedeutung der «Milieus»

Noch fehlt uns ein wesentliches Element, das für das Neue von Humboldts Ideen entscheidend war: sein intellektuelles Umfeld, die Milieus oder die Umwelt. In der Tradition der Aufklärung hätte sich Humboldt vielleicht darauf beschränkt, die neuen Pflanzenarten, die er entdeckte, morphologisch zu beschreiben und taxonomisch zu ordnen. Etwa so, wie das Carl von Linné (1707–78) vor ihm getan hatte. Besonders prägend für Humboldt war jedoch sein intensiver Austausch mit Goethe. Humboldt und Goethe teilten das grosse Interesse an der Naturbeobachtung und –beschreibung. Mit Leidenschaft experimentierten sie gemeinsam während Humboldts Aufenthalten in Jena (z.B. 1794) oder Weimar. Zusammen mit Schiller philosophierten sie über die Natur und die Wechselwirkung des Beobachters mit dieser. Kants Kritik der reinen Vernunft war zu dieser Zeit das grosse Thema unter den Gelehrten. Wir können davon ausgehen, dass Humboldt sowohl durch direkte Lektüre, als auch durch seine Diskussionen mit Schiller und Goethe mit Kants Ideen bestens vertraut war. Humboldts Bruder Wilhelm lebte zu jener Zeit ebenfalls in Jena und es ist bekannt, dass er sich intensiv mit Kants Schriften befasste. Humboldt war also ebenso geprägt durch den deutschen Idealismus, wie er auch ein Kind der Aufklärung war. Goethe arbeitete zur gleichen Zeit an seiner Farbenlehre, in welcher das Subjekt ebenso wichtig für die Empfindung von Farben war, wie das Licht als Medium und die Objekte als deren Quelle. Ganz ähnlich betrachtete Humboldt die Natur: als Beobachter war er Teil der Natur, er empfand dabei Gefühle, die Humboldt für ebenso wichtig hielt wie die abstrakten Objekte, aus denen sich die Natur zusammensetzt. So bildete sich ein Denkrahmen heraus, der für Humboldts spätere Arbeiten bestimmend wurde und im «Naturgemälde» (siehe Illustration ganz oben) seinen höchsten Ausdruck fand.

Alles ist Wechselwirkung

Alexander von Humboldt (ca. 1804)

Das Ergebnis: ein Paradigmawechsel

«Alles ist Wechselwirkung» notierte Humboldt in sein Tagebuch nach der Amerikareise. Das wirklich Neue an seinem Naturverständnis bestand darin, dass er sich mehr für die Netzwerke, die Verbindungen und die gegenseitigen Abhängigkeiten und Wechselwirkungen interessierte als für die «Einzelteile». Er erkannte, dass gewisse Pflanzenarten nur gemeinsam vorkamen, oder dass ihre Präsenz für ganz besondere meteorologische Bedingungen typisch war. Diese Erkenntnis hatte sich bei Humboldt wohl schon früher zu formen begonnen, insbesondere bei seinen Gesprächen mit Goethe. Im Regenwald und in den Bergen der Anden fügte sich nun alles zusammen. Auf relativ kleinem Raum fand Humboldt alle Klimazonen vor, von der Wüste über den tropischen Regenwald bis zu den höchsten damals bekannten Bergen mit ewigem Schnee und Gletschern. Er versuchte, alle Zusammenhänge, die sich ihm erschlossen, auf einem einzigen Bild darzustellen, dem «Naturgemälde» (siehe ganz oben). Auf einem Querschnitt durch das Chimborazo Massiv notierte er nicht nur alle beobachteten Pflanzen und die gemessenen Temperaturen, chemische Zusammensetzung des Bodens, Gravitationskraft, Luftdruck und -feuchtigkeit, sondern auch die entsprechenden klimatischen Schichten im ganzen Kontinent Südamerikas. Als Referenz sind auch die Höhen vergleichbarer Orte auf der ganzen Welt bezeichnet, selbst das Finsteraarhorn kommt vor. Mit seinem Werk wollte Humboldt eine neue wissenschaftliche Disziplin, die Geographie der Pflanzen begründen. Die Wirkung seiner Arbeiten in Europa war fulminant. Seine Publikationen und Vorträge machten Humboldt zum berühmtesten Forscher seiner Zeit.

Charles Darwin schrieb 1874, dass ihn die Schriften Humboldts zu seiner Forschungsreise auf der HMS Beagle motiviert hätten. Ebenso waren die Erkenntnisse Humboldts eine wichtige Grundlage für Darwins Evolutionstheorie.

Die «Geographie der Pflanzen» leitete zweifellos einen Paradigmawechsel in der Naturforschung ein. Rund 50 Jahre später prägte Ernst Haeckel einen neuen Namen für Humboldts Disziplin: die Oekologie. Diese schloss den Menschen als Akteur im Netzwerk Natur mit ein. Humboldt hatte bereits 1800 am Beispiel des Valenciasees in Venezuela den Einfluss des Menschen auf das Oekosystem des Sees beschrieben. Er stellte fest, dass das Abholzen der Wälder dazu führte, dass das im Boden rund um den See gespeicherte Wasser schneller verdunstete, was über längere Zeit zum Austrocknen des Sees führen würde. Die noch im 18. Jh. verbreitete Ansicht, dass der Mensch die Natur wie ein Gärtner gestalten müsse, wich nach Humboldt der Erkenntnis, dass der Mensch die Natur als Lebensgrundlage zerstören konnte.

Humboldts Werk wirkt somit bis heute nach, oft wird er als Urvater der modernen Oekologiebewegungen bis zur «Klimajugend» gesehen.

Humboldt wäre vom verheerenden Klimawandel in unserer Zeit nicht überrascht; er würde lediglich seine düstersten Prognosen bestätigt sehen.

Humboldt betrachtete die Natur als Ganzes ähnlich wie Goethe die visuelle Wahrnehmung in seiner Farbenlehre. Als Beobachter war der Mensch Teil der Natur, er empfand dabei Gefühle, die Humboldt für ebenso wichtig hielt wie die abstrakten Objekte, aus denen sich die Natur zusammensetzt.

Fazit

In diesem Artikel habe ich versucht, Alexander von Humboldt und sein bahnbrechendes Werk in den vier Dimensionen Person, Prozess, Produkt (Ergebnis) und Umwelt (Milieus) zu charakterisieren. Humboldt erfüllt die Kriterien der Kreativität gemäss Funke geradezu idealtypisch. Wenn ich unter den vier Dimensionen gewichten müsste, würde ich die Persönlichkeitsmerkmale Humboldts besonders hervorheben. Funke nennt drei Arten der «Erfolgsintelligenz»: die kreative, die analytische und die praktische Intelligenz. In allen diesen Intelligenzarten brillierte Humboldt und konnte sein grosses Wissen äusserst wirksam einsetzen.

Goethe hielt ihn für einen der klügsten Köpfe seiner Zeit.

Humboldt prägte eine neue Art der Naturbetrachtung, in der die Wechselwirkungen in einem Netzwerk von Organismen im Zentrum standen. Er verstand die Natur als «Ganzes» und beschrieb auch den Einfluss des Menschen auf sie. Humboldt darf als Begründer der «Oekologie» als wissenschaftliche Disziplin gelten. Warum also ist er heute nicht bekannter, und wird nicht in einer Reihe mit Newton, Kolumbus, Darwin oder Einstein genannt? Andrea Wulf (siehe Literaturhinweise) begründet dies damit, dass Humboldt einer der letzten Universalgelehrten war, und sich nach seinem Tod die Wissenschaft zunehmend in spezialisierte Sparten auffächerte. Sein Name wird zudem nicht mit einem neuen physikalischen Gesetz oder einem neuen Kontinent in Verbindung gebracht. Sein Vermächtnis besteht vielmehr in der Art und Weise, wie wir die Natur verstehen, und wie wir über die Natur­wissenschaft kommunizieren. Wulf schreibt:

«Humbodts Naturbegriff hat sich wie durch Osmose in unser Bewusstsein geschlichen. Fast entsteht der Eindruck, seine Ideen seien so selbstverständlich, dass der Mensch hinter ihnen verschwunden ist.»

Literatur und Quellen

Der Blog Artikel basiert auf einem Essay des Autors, verfasst im Rahmen des Studiums MAS in Applied History, Universität Zürich. (2022)

Von Humboldt, Alexander: Tableau physique des Andes et pays voisins. Peter H. Raven Library/Missouri Botanical Garden (CC BY-NC-SA 4.0), Biodiversity Heritage Library. (Originalgraphik am Anfang des Blogs reproduziert).
Funke, J., (2009). On the psychology of creativity. In P. Meusburger, J. Funke & E. Wunder (Eds.), Milieus of creativity. An interdisciplinary approach to spatiality of creativity (pp. 11-23). Dordrecht: Springer.
Lubart, T., & Thornhill-Miller, B. (2019). Creativity: An overview of the 7 C’s of creative thought. In R. J. Sternberg & J. Funke (Hrsg.), The psychology of human thought (S. 277–305). Heidelberg: Heidelberg University Publishing.
Eine wunderbare Biographie und Inspirationsquelle für diesen Artikel:
Wulf, Andrea, (2016). Alexander von Humboldt und die Erfindung der Natur, C. Bertelsmann, 20. Auflage.

2 Comments

  • Ueli Frischknecht sagt:

    Lieber Kurt, danke für den inspiriernden Text. Das System, das Umfeld und sogar uns mitzubedenken, ja sogar Emotionen als Input zu validieren, ist wirklich klug und merkwürdigerweise noch heute nicht selbstverständlich. Ich möchte gerne noch den Teil des Denkens hinzufügen, den wir Psyche nennen und Elemente enthält, die eine eigene Geschichtlichkeit haben und uns nicht restlos bekannt sind. So tragen wir blinde Flecken in die Betrachtung hinein und ergänzen die fehlende Information oft freihhändig, und manchmal ohne diesen Prozess zu reflektieren. So erhält die Oekologie, die Welt einen irrationalen Input, den sie ohne uns als Betrachtende wohl nicht hätte. Zudem kann die Täuschung entstehen, dass durch die Betrachtung die Dinge erst geschöpft oder geschaffen werden – für die Leute, die die kopernikanische Wende verschlafen haben.

    • Kurt Mäder sagt:

      Lieber Ueli, herzlichen Dank für diese wichtige Ergänzung und Reflexion. Möglicherweise sind einige der Elemente der Psyche, von denen du schreibst, in Lubart & Thornhill-Millers «7-C» Modell enthalten (Referenz oben). In den «Person-centered Characteristics» beschreiben sie kognitive und konative Elemente des kreativen Denkens. Allerdings bewege ich mich hier in wenig vertrautem Terrain, und du als Psychologe kannst besser beurteilen, ob du mit «Psyche» dasselbe wie diese Autoren meinst.

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